Rückblick
«Sternenwochen» 2025 Sammelaktion vom 10. November bis Weihnachten: KINDER HELFEN FLÜCHTLINGSKINDERN AUS DEM SUDAN
Text: Gabriela Meile, Fotos: Reto Albertalli
DIE KINDER DES VERGESSENEN KRIEGES
Die Welt schaut auf die Ukraine und nach Israel, aber kaum noch in den Sudan, wo Kinder täglich Gewalt, Verlust und Todesangst erleben. Im Nachbarland Tschad finden sie Hilfe – bald auch dank den «Sternenwochen 2025».
Nachts sieht sie in ihren Träumen, wie Kugeln durch Menschen dringen und Häuser in Flammen aufgehen. Sie hört Gewehre rattern, Bomben einschlagen und Balken krachen. Sobald sie die Augen öffnet, verschwinden die Bilder – der Lärm bleibt. Hinter der Grenze, bloss wenige Kilometer entfernt, toben die Kämpfe weiter.
Neun Monate sind vergangen, seit Alsawy Mohamed, 12, mit ihrer Familie aus dem nordostafrikanischen Sudan geflüchtet ist. Dort begannen im April 2023 Gefechte zwischen der Armee und einer Miliz. Beide, sowohl die regulären Sudanese Armed Forces (SAF) als auch die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), wollen Macht und politische Kontrolle. Alsawys Stadt al-Faschir wurde von den RSF angegriffen. «Meine Verwandten und ich rannten auf die Strasse, versteckten uns hinter Bäumen», erzählt Alsawy. Mit ihren Eltern und drei Geschwistern verliess sie ihre Heimat in Richtung Westen. Auf dem Weg attackierten die Rebellen sie abermals. «Sie warfen uns zu Boden, schlugen uns. Meinem Bruder zerschossen sie mit einer Pistole die Hände. Mein Vater ist verschwunden.» Alles in allem waren sie zwei Wochen unterwegs. Die letzte Strecke legten sie zu Fuss zurück. Erschöpft erreichten sie Adré im Nachbarland Tschad.
Warten auf die Umsiedlung
Hier haben 2023 die Regierung und das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) eine provisorische Siedlung aus Zelten und Strohhütten errichtet. Vertriebene sollten kurzfristig Schutz finden und nach der Registrierung in offizielle Camps umsiedeln. Allerdings müssen Tausende ausharren. Sie sind zwar dem Tod entronnen. Die Geräusche des Krieges vernehmen sie jedoch noch immer.
Insgesamt sind 14 der 50 Millionen Menschen innerhalb des Sudan oder in die Nachbarstaaten geflohen. Fast 800 000 – darunter rund 120 000 Frauen und nahezu 600 000 Kinder – gelangten seit 2023 in den Tschad. Diese Nation mit einer 18-Millionen-Bevölkerung ist selbst eine der ärmsten der Welt, hat bereits während der Darfur-Krise von 2003 über 400 000 Fliehende aufgenommen und ist mit dem erneuten Andrang überfordert: In sämtlichen 20 Camps mangelt es an Wasser, Nahrungsmitteln, Unterkünften, medizinischer Versorgung und Zugang zu Bildung. Besonders die Mädchen und Buben leiden zusätzlich unter schweren Traumata.
Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, leistet dringend erforderliche Nothilfe und unterstützt Einrichtungen, die Kinder psychosozial begleiten. Alsawy etwa besucht seit kurzem ein Zentrum, wo Mädchen ihre belastenden Erfahrungen in Gruppen mit anderen Betroffenen austauschen und mit Fachleuten sprechen können.
Sie krochen um ihr Leben
Im Auffanglager von Adré waren im Frühsommer rund 240 000 Personen registriert. Bis das UNHCR im Juli wegen Mittelkürzungen gezwungen war, die Aufnahme im Tschad zu stoppen, waren täglich ungefähr 200 hinzugekommen. Sie hausen in Hütten ohne fliessend Wasser oder Elektrizität, die Toiletten sind Löcher in der Erde, Essen ist rar. Entsprechend lang ziehen sich die Kolonnen im Verteilzentrum. Vor allem Frauen stehen an, lassen ihren Namen und die Anzahl Familienmitglieder überprüfen und ihre Kinder auf Mangelernährung testen. Nach Stunden halten sie ein Ticket in den Händen, das sie berechtigt, Ware abzuholen. Bei über 40 Grad warten sie erneut auf Mais, Öl oder Milchpulver.
Khadija Siham, 35, aus El Geneina ist eine von ihnen. «Ich bin dankbar für die Gaben, aber sie machen meine Familie nicht satt.» Eine Monatsration ist häufig derart gering, dass sie bloss für zwei Wochen genügt. «Die Lage hier ist schwierig. Im Sudan konnten wir dennoch nicht bleiben. Die RSF schossen meinem Mann Mohamed Abashahab in die Knie, mir brachen sie die Beine und schlugen auf mein Gesicht ein.» Siham und Abashahab krochen um ihr Leben.
Was ihnen und vielen anderen widerfahren ist, liegt an einem andauernden Konflikt: Seit der Sudan 1956 unabhängig wurde, eskalierten mehrere Bürgerkriege, 2003 mündeten bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen und der Regierung in der Darfur-Krise. Präsident Umar al-Baschir integrierte die rebellischen RSF unter Mohammed Hamdan Daglo in die reguläre Armee unter General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan. Die zwei Anführer stürzten al-Baschir 2019, zerstritten sich 2023 und lösten Kämpfe aus. Die Uno betont, beide Parteien hätten Kriegsverbrechen begangen.
Gefahr von der nahen Grenze
Hamit Hardja Abdoulaye Mandy, 32, leitet im Auftrag der tschadischen Regierung die provisorische Einrichtung in Adré. «Die Menschen haben nichts – ausser Angst und Not. Wir geben ihnen ein Dach über dem Kopf, zu essen und zu trinken. Bleiben können sie jedoch nicht.» Es seien zu viele. Ausserdem ist die Nähe zur Grenze gefährlich. Deshalb verteilt das UNHCR die Flüchtlinge auf andere Camps, zum Beispiel nach Farchana, zwei Autostunden weiter im Landesinneren.
Hier sind Geräusche des Krieges fern. Darüber ist Firdous Mahamat Yaya zwar froh. «Doch der Krieg verfolgt uns in die Träume», sagt die 13-Jährige, die im Juni 2023 mit ihrer Familie aus El Geneina nach Adré flüchtete. Drei Wochen darauf erreichte sie Farchana. «Ein Transport eines Hilfswerks brachte uns her. Die Leute sagten, nun seien wir in Sicherheit. Es fühlt sich aber anders an.» Die Gewalt stoppt nicht an der Grenze. Weder zum Tschad noch zum Camp. «Mädchen etwa, die Feuerholz sammeln, werden regelmässig sexuell missbraucht.» Um sie zu schützen, hat Unicef ein Programm zur Produktion von Kohle lanciert. Jeden Freitag knetet Firdous mit Gleichaltrigen in einem Zelt Briketts aus Karton, Wasser, Asche und Sand.
Im Farchana-Camp sind rund 51 800 Menschen untergebracht, etwa 60 Prozent von ihnen bereits seit der Darfur-Krise vor 22 Jahren. Längst haben sie Häuser aus Steinen gebaut. Mousa Abderhaman, 60, leitet die Flüchtlingsstadt. «Wir bieten den Leuten dauerhaft eine Bleibe.» Die über 20 000 neu Angekommenen wohnen noch in Zelten und Strohhütten. Das soll sich schrittweise ändern. Doch die Herausforderungen sind enorm: Der Fluss trocknet in der Dürreperiode aus, der Wind reisst Blachen und Blech von Dächern. Schlafmatten, Kanalisation und Elektrizität fehlen. Obendrauf erhalten bei weitem nicht alle die 8000 CFA-Franc (knapp 12 Franken), die ihnen monatlich zustünden.
«Neu anfangen – egal wo»
Der Arzt Albachir Mahamat Albachir, 31 behandelt im Spital wöchentlich 200 moderat und 120 schwer mangelernährte Kinder. «Wir geben unser Bestes. Aber wir haben von allem zu wenig: Personal, Medizin, Laborgeräte. Sogar therapeutische Milch und die nährstoffreiche Erdnusspaste müssen wir rationieren.» Er tritt ans Bett, auf dem Fatna Mahamat Abakar, 25, mit ihrem sechsmonatigen Sohn Awab und ihrem unterentwickelten zweieinhalbjährigen Mädchen Amna sitzt. Sie gehört zu jenen, die während der Darfur-Krise nach Farchana kamen. «Seit ständig Leute eintreffen, wird die Lage immer prekärer», sagt sie. «Am liebsten würde ich diesen Ort verlassen und neu anfangen – egal wo. Hauptsache, meine Kinder haben ein Leben ohne Gewalt, Hunger und Sorgen.»
Den Wunsch nach Frieden teilen alle Menschen, die aus dem Sudan in den Tschad geflüchtet sind. Sie versuchen, ihrem Alltag Normalität zu verleihen. Manchmal lachen sie. Aber in der Nacht kehren die Geräusche des Krieges zurück – hinter der Grenze und in den Träumen.
Erschienen in der «Schweizer Familie»-Ausgabe Nr. 42 vom 16. Oktober 2025.
Spenden bis Weihnachten
Die Sammelaktion «Sternenwochen» ist ein gemeinsames Projekt von Unicef Schweiz und Liechtenstein sowie der «Schweizer Familie», die wie diese Zeitung zum Verlagshaus Tamedia gehört. Sie dauert vom 10. November bis Weihnachten. Die Spenden gehen ins zentralafrikanische Land Tschad, wo sudanesische Flüchtlingskinder täglich mit traumatischen Erinnerungen kämpfen. In den Camps mangelt es den Familien an Wasser, Nahrung und Unterkünften. IBAN CH88 0900 0000 8000 7211 9 www.sternenwochen.ch